Christian Morgenstern
Brüder
„Brüder!“ – Hört das Wort!
Soll’s ein Wort nur bleiben?
Soll’s nicht Früchte treiben
fort und fort?
Oft erscholl der Schwur!
Ward auch oft gehalten –
doch in engem, alten
Sinne nur.
O sein neuer Sinn!
Lernt ihn doch erkennen!
Laßt doch heiß ihn brennen
durch euch hin!
Allen Bruder sein!
Allen helfen, dienen!
Ist, seit ER erschienen,
Ziel allein !
Auch der Bösewicht,
der uns widerstrebet!
Er auch ward gewebet
einst aus Licht.
„Liebt das Böse – gut!“
lehren tiefe Seelen.
Lernt am Hasse stählen –
Liebesmut!
„Brüder!“ – Hört das Wort!
Daß es Wahrheit werde –
und dereinst die Erde
Gottes Ort!
Sieh nicht, was Andre tun,
der andern sind so viel,
du kommst nur in ein Spiel,
das nimmermehr wird ruhn.
Geh einfach Gottes Pfad,
lass nichts sonst Führer sein,
so gehst du recht und grad,
und gingst du ganz allein.
Der Engel ...
»Wo bist du hin? Noch eben warst du da –
Was wandtest du dich wieder abwärts, wehe,
nach jenem Leben, das ich nicht verstehe,
und warst mir jüngst doch noch so innig nah.
Ich soll hinab mit dir in deine Welt,
aus der die Schauer der Verwesung hauchen,
ins Reich des Todes soll ich mit dir tauchen,
das wie ein Leichnam fort und fort zerfällt?
Wohl gibt es meinesgleichen, eingeweiht
in eure fürchterlichen Daseinsstufen...
Doch ich bin's nicht. Nur wie verworrnes Rufen
erschreckt das Wort mich Eurer Zeitlichkeit.
Lass mich mein Haupt verhüllen, bis du neu
mir wiederkehrst, so rein, wie ich dich liebe,
von nichts erfüllt als süßem Geistestriebe
und deinem Urbild wieder strahlend treu.«